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Aflenz, 4. April 1945, Amerikanische Luftaufnahme | Luftbilddatenbank Ingeneurbüro Dr. Carls


Bertrand Perz
Das Außenlager „Graz-Leibnitz‟ des KZ Mauthausen in Aflenz an
der Sulm für die Steyr-Daimler-Puch AG


Das Außenlager mit der Bezeichnung „Graz-Leibnitz‟, das vom 9. Februar 1944 bis Anfang April 1945 in der kleinen Ortschaft Aflenz an der Sulm bestand, war eines von über 40 Außenlagern des KZ Mauthausen. Zweck der Errichtung des Lagers war die Nutzung der Zwangsarbeit von Häftlingen für die Adaptierung des Römersteinbruchs zur unterirdischen Verlagerung der Rüstungsproduktion des Werkes der Steyr-Daimler-Puch AG (SDPAG) in Graz Thondorf.
Das Kraftfahrzeug- und Rüstungsunternehmen SDPAG expandierte während des Krieges zu einem Großunternehmen der deutschen Rüstungswirtschaft. Die Zahl der Beschäftigten stieg von 7000 1938 auf ca. 50.000 bis 1944, die Hälfte davon waren ausländische Zwangsarbeiter. Dazu kamen viele tausende KZ-Häftlinge, die für die Interessen des Konzerns Zwangsarbeit verrichten mussten.
Zu einem wichtigen Baustein der Firmenexpansion sollte die Flugmotoren- produktion nach dem Misserfolg der deutschen Kriegsführung im Luftkrieg mit Großbritannien werden, die einen verstärkten Ausbau der deutschen Flugzeugindustrie zur Folge hatte und der SDPAG einen Großauftrag zur Errichtung eines Lizenzwerks für Daimler-Benz Flugmotoren einbrachte.
In Graz-Thondorf wurde ein großes neues Werk zur Produktion von Flug- motorenteilen, insbesondere von Zahnrädern und Kurbelwellen errichtet, der Zusammenbau und die Prüfung der Motoren erfolgten in Steyr. Ab 1943 übernahm das Werk Graz auch die Produktion entsprechender Teile für die Panzerfertigung.
Mit dem strategischen Luftkrieg der Alliierten, der ab Sommer 1943 auch Industrieziele auf österreichischem Gebiet umfasste, begannen bei der SDPAG die Planungen zum Schutz der Produktion durch Verlagerung in unterirdische Räume. Für das Werk Graz-Thondorf hatte man am schnell-sten einen Standort gefunden. Die Kurbelwellen- und Getriebezahnräder- produktion sollte in den Römersteinburch Aflenz verlegt und bis Juli 1944 8000 qm unterirdische Fläche unter dem Tarnnamen „Kalksteinwerke‟ bezugsfertig gemacht werden. Ab Sommer 1944 wurde bei Peggau nördlich von Graz eine weitere Stollenanlage unter Einsatz von KZ-Häftlingen für die SDPAG errichtet. Aus dem Grazer Werk wurden in der zweiten Jahreshälfte 1944 etwa 1060 Werkzeugmaschinen in die unterirdische Fabrik nach Aflenz verlegt, etwa 2000 Personen arbeiteten fortan im Römersteinbruch. Ein Großteil der zivilen Beschäftigten war in einem Barackenlager westlich der unterirdischen Fabrik untergebracht.

Der erste Transport mit 201 Häftlingen traf am 9.Februar 1944 in Aflenz ein. Für das Lager wurde von der SS ein Acker unmittelbar an der von Aflenz nach Retznei führenden Straße beschlagnahmt, der etwa 500 Meter vom Steinbruch entfernt lag. Die Häftlinge mussten zwei Baracken für die SS-Wachmannschaften und vier Baracken als Häftlingsunterkunft errichten. Der ehemalige österreichische Häftling Robert Grissinger hat das Lager so beschrieben:
„Die Baracken standen auf Piloten, rundherum war ein sumpfiges Gelände. So wie in Mauthausen bestanden die Baracken aus den Stuben A und B, jede Stube hatte einen Aufenthalts- und einen Schlafraum. (…) In den Baracken gab es Zweistockbetten und eine Baracke konnte ungefähr 300 Häftlinge beherbergen. Das Lager hatte 6 Wachtürme, einen doppelten elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun und vom Lager zu der ungefähr 500 Meter entfernten Arbeitsstätte führte ein schmaler Weg, der links und rechts einen Stacheldrahtzaun, ohne Starkstrom, cirka zwei Meter hoch, aufwies. Dieser Weg wurde von den Häftlingen ‚Löwengang‛ genannt. Außerhalb des Häftlingslagers befanden sich zwei SS-Baracken, Mannschaftsunterkunft, Schreibstube und Unterkunft der SS-Führer.‟
Im Außenlager in Aflenz hatten nacheinander drei Lagerführer die Befehlsgewalt. Zunächst der aus Bayern stammende SS-Obersturmführer und gelernte Tapezierer Hans Altfuldisch, der seit der Gründung des KZ Mauthausen 1938 dort Dienst versehen hatte. Im Mai 1944 löste ihn der aus Ulm stammende SS-Untersturmführer Fritz Miroff ab, der zuvor schon als Lagerführer in den Außenlagern Bretstein und Linz I tätig gewesen war. Mitte August 1944 übernahm Miroff den Aufbau des Außenlagers Peggau, blieb aber weiter für Leibnitz zuständig. Sein Stellvertreter in Aflenz wurde der aus Duisburg stammende SS-Hauptscharführer Paul Ricken, von Hauptberuf Kunsterzieher, zuvor Leiter des Erkennungsdienstes des KZ Mauthausen. Im Lager waren bis zu zehn SS-Unterführer tätig, verant-wortlich für die Außenbewachung waren ca. 60 SS-Männer, darunter viele Angehörige der deutsprachigen Minderheit aus Kroatien und Ungarn.

Für die Arbeit im Stollenbau und später auch in der Produktion wurden insgesamt mindestens 901, maximal 920 Häftlinge mehrheitlich aus Mauthausen in das Lager eingewiesen, 197 Häftlinge kamen aus dem Außenlager Wiener Neudorf und 66 aus dem Außenlager Peggau. Den absoluten Höchststand erreichte das Lager im September 1944 mit 711 Häftlingen. Mit der Aufnahme der Produktion wurde die Zahl der Häftlinge allmählich um mehr als ein Viertel verringert, diese wurden zum Stollenbau in das Lager Peggau überstellt. Rund 50 Häftlinge wurden nach Mauthausen rücküberstellt, vermutlich erschöpfte und daher nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge, die dort nur geringe Überlebenschancen hatten.
Immer wieder versuchten Häftlinge, aus dem KZ zu entfliehen, insgesamt sind für Aflenz sechs Fluchtversuche registriert worden, mit welchem Erfolg ist nicht bekannt.

Die Mehrzahl der ins Lager Aflenz verbrachten ausschließlich männlichen Häftlinge stammte aus den folgenden europäischen Ländern: Sowjetunion (38,7 %), Polen (27,3 %), Deutsches Reich (14,4 %), Jugoslawien (8,5 %), Frankreich (4,6 %,), Spanien (2%), Tschechien (1 %), Griechenland (1%.)

Einzelne Häftlinge stammten aus Ungarn, Belgien und China. Nach den Einweisungskategorien der SS waren fast die Hälfte politische Schutz-häftlinge (47 %) und mehr als ein Viertel waren russische Zivilarbeiter
(26,8 %), SV-, AZR- und BV-Häftlinge, von der SS auch als „Kriminelle‟ bezeichnete Häftlinge, hatten einen Anteil von zusammen 17,4 %, Kriegs-gefangene von mehr als 8 %. Zwei Häftlinge waren ehemalige Wehr-machtsangehörige, ebenfalls zwei Häftlinge waren wegen Verstoß gegen das Homosexualitätsverbot (§175) eingewiesen worden, ein Häftling wurde als ungarischer Jude geführt.
Die Existenzbedingungen der Häftlinge waren geprägt von schwerer Arbeit, mangelnder Versorgung mit lebensnotwendigen Dingen und Hunger sowie Misshandlungen durch die SS bei den geringsten Anlässen. Der ehemalige polnische Häftling Edmund Glazewski über die Arbeit im Stollen:
„Die schwere Arbeit wurde Tag und Nacht – in zwei Schichten zu je 12 Stunden – in großem Tempo durchgeführt und hatte den Zweck, die bisher nicht geformten Gänge und Räume in eine Art Säle zu verwandeln. Der Boden und die Wände wurden planiert und zurecht geschnitten, die Räume höher ausgebrochen und mit Säulen zur Unterstützung befestigt. Dazu verhalfen uns Presslufthämmer und Bohrer, Keilhauen und strengbewachte Sprengstoffe. Der ganze Abbau, Steine und Erde wurden mit Kippwagen auf Schienen, mit Karren und auf Tragen, größere Felsbrocken meistens mit Schleppern hinausbefördert. Die Arbeit wurde von Zivilisten geleitet.
Diesen Bauarbeiten folgten dann die Installation von Entlüftungs- und Beheizungsanlagen sowie Elektroleitungen, Betonierung des Bodens und der Bau von Maschinenuntersätzen. Es folgte dann der ganze Maschinen-transport, welcher mit sehr sorgfältig getarnten und abgeschlossenen LKW`s geschah. (…)‟

Das Lager in Aflenz war schon auf Grund seiner Lage keineswegs von seinem unmittelbaren Umfeld isoliert, wenn auch Kontakte zwischen Häftlingen und Zivilpersonen streng verboten und scharf geahndet wurden. Häftlinge, bewacht von SS-Angehörigen, brachten die Küchenabfälle im Tausch gegen Milch zu Bauern, immer wieder besuchten Zivilisten die SS im Lager, Häftlinge gingen täglich an den Bauerhöfen vorbei zur Arbeit, wurden unter Beobachtung von Anwohnern misshandelt und erschossen. Eine Elektrofirma aus Leibnitz war am Lageraufbau beteiligt, Transport-unternehmen aus der Region lieferten diverse Baustoffe, Kohlen und Kartoffeln ins Lager, die Fahrer wurden dort auch verköstigt.
Die schweren Arbeits- und Lebensbedingungen führten zum Tod von 78 Häftlingen, mindestens 8 weitere Häftlinge sind auf dem Evakuierungsmarsch ums Leben gekommen. Die meisten Todesopfer stammten aus der Sowjetunion, aus Polen und aus dem Deutschen Reich. Vielfach wurden Häftlinge Opfer direkter Gewaltanwendung durch die SS, die als „Freitod durch Erhängen‟ oder „Erschießung auf der Flucht‟ dargestellt wurden. Die Zahl dieser Fälle ist in Aflenz ist mit mehr als einem Viertel (21 von 78 Todesfällen) im Vergleich zu vielen anderen Außenlagern extrem hoch und lässt auf ein hohes Gewaltpotential der SS schließen. Die in Leibnitz verstorbenen Häftlinge wurden zur Verbrennung in das städtische Krema-torium nach Graz verbracht, später wurden sie auch in einem Massengrab in der Nähe des Lagers verscharrt.

Anfang April 1945, die Angaben differieren zwischen 2. und 4. April 1945, wurde das Lager angesichts der herannahenden Roten Armee aufgelöst. Die in Aflenz verbliebenen 467 Häftlinge, begleitet von ca. 50 Wachposten, mussten unter der Leitung von Lagerführer Ricken in langen Fußmärschen über Judenburg zum KZ Ebensee gehen. Kranke und marschunfähige Häftlinge wurden während des Marsches erschossen. An die 50 Häftlinge sollen in der Nähe von Judenburg einen Fluchtversuch unternommen haben. Wie viele davon getötet wurden, ist nicht bekannt. Am 18. April 1945 erreichten 407 Häftlinge das Lager Ebensee.


Folgende Literatur wurde für diesen Text herangezogen: Gisela Rabitsch, Konzentrationslager in Österreich (1938-1945). Überblick und Geschehen, Diss phil. Universität Wien 1967; Hans Maršálek, Geschichte des Konzen-trationslagers Mauthausen, Wien 1974; Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1933-1945, Graz-Wien 1986; Herbert Harb, Das Konzentra-tionslager im Dorf Aflenz (Februar 1944 – April 1945), Manuskript, o.O. (1982); Anita Farkas¸ Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsbedarf in der Steiermark. Auf den Spuren der Erinnerung an die Konzentrationslager Aflenz, Peggau und Schloß Lind, Diplomarbeit Univ. Klagenfurt/Celovec 2001; . Bolesław Pawłowski, Nieznane epizody z obozu w Aflenz, in: Przegląd Lekarski, 1976, Tom 33, Nr. 1, S. 188-194; Florian Freund, Arbeitslager Zement. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketen-rüstung, Wien 1989; Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991; Bertrand Perz, Leibnitz bzw. Peggau, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 4. Flossenbürg - Mauthausen - Ravensbrück, München 2006, S. 386-389 bzw. 414-416. Interview mit Robert Grissinger, 20.10.1967, Archiv der KZ Gedenkstätte Mauthausen im BMI (AMM) B 35/5/1 Vgl. Bundesarchiv Berlin (BAB) BDC-Unterlagen der genannten Personen. Hans Altfuldisch, Glied-erung des K.L. Mauthausen, KLM./Gusen und aller Außenlager, AMM P6/4
Alle statistischen Angaben sind aus SS-Aufzeichnungen aus folgenden Archiven zusammengestellt: AMM; Archiv der Hauptkommission Warschau im IPN; Archiv der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau (APMAB).
AZR=Asozial Reich, BV=befristete Vorbeugungshäftlinge, SV=Sicherheits-verwahrungs-Häftling. Die Einteilung in diese Kategorien musste keineswegs bedeuten, dass es sich dabei um gewöhnliche Kriminalität im heute verstandenen Sinne handelt. Vielfach wurde abweichendes Verhalten oder Unangepasstheit kriminalisiert, vielfach wurde bei geringfügigen Vergehen KZ-Haft verhängt.
Edmund Glazewski, Das KZ-Lager Aflenz, in: Festschrift der Marktgemeinde Ehrenhausen, hrsg. vom Arbeitskreis „Festschrift‟ im Auftrag der Marktgemeinde Ehrenhausen, Graz 1990, S. 332 f.
Eidesstattliche Erklärungen von Johann Jöbstl, 29.9.1953 und Grete Rath, 3.9.1949 US vs. Eduard Dlouhy et al, case 000-50-5-14, National Archives, Washington DC.